Eine Generationenfrage?

Rollentausch bei pflegenden Angehörigen

Wenn man sich dem Thema Rollentausch bei pflegenden Angehörigen widmet, sollte man sich zuallererst die Strukturveränderungen der Generationen im Laufe der Jahre bewusst machen. Das hilft einige grundlegende Dinge besser zu verstehen.

Die jetzige Baby-Boomer-Generation (v.a. Frauen des mittleren Erwachsenenalters) ist jene Generation, welche häufig von der Betreuung ihrer Kinder in die Betreuung ihrer Mütter und Väter wechselt. Hier ergeben sich Lebensperspektiven, mit denen bisherige Generationen nicht konfrontiert waren. 

Für die jetzt hochbetagten Menschen gab es aufgrund der früheren geringeren Lebenserwartung keinen Anlass sich mit Themen wie der Pflege der eigenen Eltern oder nahen Verwandten auseinanderzusetzen. „20 und mehr Pensionsjahre, 45 und mehr Ehejahre, das Heranwachsen der vierten Familiengeneration, technologischer und gesellschaftlicher Wandel, chronische körperliche und geistige Beeinträchtigung verlangen nach Bewältigungsstrategien, auf die nicht zurückgegriffen werden kann“ (Badelt et al., 1997).

Die familiäre Pflege ist abhängig von den Rollen und Beziehungen der Familienmitglieder zueinander. Jede Familienbeziehung hat ihre Geschichte, und oftmals werden diese „Geschichten“ in der Pflegesituation ausgetragen, jedoch selten aufgearbeitet. Das heißt, dass die Pflegebeziehung auch von Familienkonflikten, ungeliebten Rollen und Geschwisterrivalitäten beeinträchtigt ist. 

Wer trägt Verantwortung? 

In den seltensten Fällen herrscht Klarheit über die Übernahme der Pflegeverantwortung. Vor allem bei der Pflege der eigenen Eltern gibt es Situationen, in denen einem Geschwisterteil die Pflegerolle einfach übertragen wird. Zusätzlich gibt es die Theorie, dass oft jenes Kind die Pflege übernimmt, das zu wenig Zuwendung durch den betreffenden Elternteil erhalten hat. Durch die Erkrankung der Mutter oder des Vaters wird aber eine Neudefinition der familiären Rollen nicht mehr möglich. Das zu kurz gekommene Kind wird die ersehnte Zuwendung und Anerkennung nicht mehr bekommen können – insbesondere dann, wenn sich die Pflegenotwendigkeit aus einer dementiellen Erkrankung heraus ergibt. Durch die neue Pflegebedürftigkeit eines Elternteils muss es zu einer neuen Rollenverteilung kommen, das Autoritätsgefälle dreht sich. Neue Absprachen müssen getroffen und gegenseitige Verpflichtungen ausgehandelt werden. Vor allem im Bereich von dementiellen Erkrankungen müssen sich die pflegenden Angehörigen auch mit Trauerarbeit auseinandersetzen. Mit dem Verlust von Funktionen und Fähigkeiten emotional auseinandersetzen und sich von einer liebgewordenen Person ein Stück verabschieden (Badelt et al., 1997). 

Alte Menschen erleben vielerlei Verluste und Einbußen, und das Verarbeiten neuer Lebenssituationen erfordert viel psychische Kraft. Man wird unselbstständiger, abhängiger und fühlt sich oftmals hilf- und wertlos. Bewältigungs- und Abwehrmechanismen wie z.B. Projektion (Übertragen der eigenen unerwünschten Gedanken, Gefühle und Eigenschaften auf andere Menschen) oder der Rückfall in frühkindliche Verhaltensweisen beeinflussen die Pflegebeziehung sehr. Weiters charakterisiert sich die Pflegebeziehung durch nicht ausgesprochene, gegenseitige Erwartungen, hohe Anforderungen an sich selbst und durch enorme Unsicherheiten und Ängste. 

Zusätzlich zu den psychischen Belastungen spielen auch körperliche Belastungen eine Rolle.

Es wird körperlich 

Auch die körperlichen Belastungen spielen eine große Rolle. Heben, Stützen und Umlagern von bewegungsbeeinträchtigten oder schweren Personen ist bei unsachgemäßer Ausstattung der Wohnung äußerst mühsam. Altgewordene Eltern haben alte Kinder, bei denen sich auch körperliche Abnützungserscheinungen bemerkbar machen. Pflegende Angehörige können oftmals nicht ausspannen und sind auch dann unruhig und befürchten häusliche Katastrophen, wenn sie sich selten einmal „frei genommen“ haben. Diese zeitliche Beanspruchung erhöht die Tendenz zum Ausbrennen deutlich. Werden pflegende Personen durch Pflegeprofis unterstützt, weisen sie ein um ein Drittel reduziertes Burnout-Risiko auf. 

Hilfe durch Außenstehende bedeutet nicht nur zeitliche und professionelle Entlastung, sondern auch Aussprachemöglichkeit und sozialen Kontakt. Denn viele pflegende Familien ziehen sich währen der Pflegezeit von der sozialen Außenwelt zurück. Dies geschieht meist aus Müdigkeit und Überforderung, aber auch aus Angst, den anderen die wahre Notlage der Pflegesituation zu offenbaren. 

„Wenn es in der Familie stimmt, gelingt auch die Pflege!“ eine Killerphrase, welche vielleicht noch in vielen unterbewusst schlummert. Dieser Satz betont den Stellenwert der leistungsfähigen intakten Familie und stellt jeden Versuch Hilfe zu holen, als persönliches Scheitern der Pflegeperson dar. Zum Druck innerhalb des Familiensystems kommen also noch die Erwartungen und Anforderungen von außen dazu. 

Nicht ohne meine Tochter 

Schaut man sich die Rolle des pflegenden Angehörigen genauer an, ist es meist eine Tochter, die entweder selbst schon im Pensionsalter ist oder kurz vor der Pensionierung steht. Dankbarkeit und Verantwortlichkeit gegenüber den Eltern kommen nun in den Konflikt mit den eigenen Wünschen und Erwartungen an die Pensionszeit. Pflegende Töchter und Schwiegertöchter haben meist auch eine eigene Familie. Partner und Kinder reagieren oftmals eifersüchtig und ärgerlich über die hohe zeitliche Belastung und den Verantwortungsdruck, der sich aus der zusätzlichen Aufgabe der Mutter bzw. Partnerin ergibt (Badelt et al., 1997). 

Ein nicht zu unterschätzender Bereich ist jener der pflegenden Kinder. Pflegende Kinder sind in ähnlicher Weise in die Pflege eingebunden wie Erwachsene – meist auch ohne jede professionelle Unterweisung. Sie wachsen in die Pflegesituation hinein. Buben pflegen meist dort, wo es keine Schwestern gibt, ansonsten ist das Geschlechtsspezifikum der häuslichen Pflege annähernd ausgeprägt wie bei den Erwachsenen. Die schwerwiegendsten Belastungen ergeben sich aus der Umkehr der Bezugs- und Autoritätsverhältnisse, aus dem Rollentausch. Pflegende Kinder übernehmen durch ihre Rolle eine innerfamiliäre statusfremde Position, und sie erleben eine sogenannte Notreifung. Ebenfalls wie bei den Erwachsenen schränken pflegende Kinder und Jugendliche ihre Kontakte nach außen ein. 

Viele verschiedene Rollen 

Abschließend muss man noch über den Rollenwechsel schreiben, den wir in unserem Leben selbst öfters erleben. „Ein kleines Mädchen wird zur Frau, eine Studentin zu einer Chefin, ein Sohn zum Vater, ein Vater zum Rentner, ein Freund zum Geliebten und später vielleicht zum Ehemann. Die sozialen Rollen, die wir in unserem Leben spielen, bestimmen häufig unser Sein, mit ihnen erfüllen wir unsere vielen Lebensaufgaben. Sie sind einem steten Wandel unterworfen und Teil unserer Entwicklung. Wenn der Abschied von ausgedienten Rollen nicht gelingt oder wichtige Lebensabschnitte nicht bewältigt wurden, kommen sie oft am Ende des Lebens an die Oberfläche und wollen ein letztes Mal betrachtet werden“ (Nachum, 2022). 

Erik Erikson teilt das Leben in acht Stufen ein und ordnet jedem Lebensabschnitt eine Aufgabe zu, die erfüllt werden soll. Wird sie nicht erfüllt, wird diese Lebensaufgabe in eine Art Rucksack gesteckt und der Mensch erklimmt die nächste Lebensstufe mit diesem Lebensrucksack auf dem Rücken. Er hat die Möglichkeit, diese unerfüllten Aufgaben auch später – gegebenenfalls mit professioneller Hilfe – zu bewältigen. Wenn ihm das nicht gelingt, so meint Naomi Feil (Begründerin der Validationsmethode), beginnt am Ende des Lebens die Aufarbeitung dieser nicht gelösten Lebensthemen (Nachum, 2022). 

Wenn wir älter werden, ist es oft schwer, unseren gewohnten Rollen gerecht zu werden. Zur erfolgreichen Bewältigung dieser Rollenwechsel in unserem Leben, wäre es ratsam, sich mit den eigenen Lebensrollen auseinanderzusetzen und Rollen, die uns nicht mehr entsprechen, zu beenden. Hildegard Nachum schreibt, dass die Auseinandersetzung mit dem eigenen Altern und die damit verbundene körperliche und psychische Veränderung eine der wichtigsten Aufgaben in unserem Leben sein kann. 

Tipps beim Rollentausch 

  • Das Vertrauen in der Beziehung stärken. Wie in jeder Beziehung ist das Vertrauen auch beim Rollentausch sehr wichtig. Die körperlichen, psychischen und emotionalen Veränderungen können Ängste hervorrufen, da gibt einem ein starkes Vertrauensverhältnis die nötige Sicherheit, um mit den Veränderungen gut umgehen zu können. 
  • Klare Kommunikation schon bevor ein Elternteil oder Partner:in pflegebedürftig wird. Umso klarer und genauer im Vornherein kommuniziert wurde (und im besten Fall auch verschriftlicht wurde), umso besser wird die Pflege und der Rollentausch gelingen. 
  • Für manche ist der Rollentausch selbstverständlich und natürlich – für andere nicht. Das ist aber kein Grund, dass man kein:e gute:r pflegende:r Angehörige:r ist, oder etwas falsch macht. 
  • Die Zeit für einen arbeiten lassen. Eine Beziehung braucht Zeit, auch eine Pflegebeziehung. 
  • Eine Selbsthilfe- oder Gesprächsgruppe in der Nähe suchen. Der Austausch mit Gleichgesinnten ist der wichtigste soziale Punkt im Rahmen der Pflegetätigkeit.  
  • Professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen. Man muss nicht alles allein machen. Familienmitglieder oder soziale Organisationen und Dienstleistungen in den Pflegealltag mit einbinden.

Literatur, Quellen und Links
  • Badelt, C., Widhalm, M., Voracek, M., & Schattovits, H. (Eds.) (1997). Beziehungen zwischen Generationen. Ergebnisse der wissenschaftlichen Tagung der ÖGIF im November 1995 in Linz. Österreichisches Institut für Familienforschung . Schriftenreihe des Österreichischen Instituts für Familienforschung  
  • Nachum, H. (2022). Die Weisheit der Demenz. Wegweiser zum würdevollen Umgang mit desorientierten Menschen. Kneipp Verlag. 

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