Fred ist diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger sowie Berater bei Alles Clara. Er hat seine schwerkranke Frau bis zu ihrem Tod gepflegt und weiß daher nicht nur beruflich, sondern auch persönlich, wie es ist, ein pflegender Angehöriger zu sein. In seinem Text gibt er tiefgehende Einblicke in seine Erfahrungen nach dem Verlust seiner Frau und teilt seine Erinnerungen an das erste Weihnachtsfest ohne sie. Freds ehrliche und emotionale Schilderungen bieten wertvolle Perspektiven auf den Umgang mit Pflege, Tod und den damit verbundenen Emotionen.
Manfred (Fred) ist diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger sowie Berater bei Alles Clara. In seinem Artikel teilt er Ausschnitte aus seiner persönlichen Lebensgeschichte.
Die erste Zeit nach dem Tod meiner Frau empfand ich als das Ende des Denkbaren, als fortgesetzten Seeleninfarkt. Der Tagesablauf glich dem Überwinden der Alltagsrealität, die vordringliche Aufgabe nach solch einem Verlust war, im Leben wieder Fuß zu fassen.
Gleich zu Beginn der Trauerzeit wurde mir schmerzlich klar, dass es wichtig sein würde, die Höhepunkte des Kalenderjahres auf mich allein gestellt zu durchschreiten: die Jahreszeiten, Geburts- und Todestage, Feiertage, jeden einzelnen Tag, jede Woche, zwölf Monate lang, um die sogenannte Wirklichkeit und deren „Bedingungen“ anzunehmen.
Das erste Weihnachten
Gleichviel, wie ich mich rüstete: Die erste Weihnacht ohne meine Frau war Herzleiden und Herausforderung zugleich. In jenen Tagen öffnete ich eine Tür zu einer anderen Zeit. Damals fasste ich den Entschluss, mir selbst eine Auszeit von drei Monaten unter den Weihnachtsbaum zu legen. Die drei Monate war ich auf dem Jakobsweg in Frankreich und Spanien unterwegs.
Stirbt ein Mensch, den man lange begleitet hat, kommt die Zeit danach. Diese Danach-Zeit war – und ist immer wieder – nicht nur Auseinandersetzung mit Trauer und Verlust, sondern auch intensive Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit.
Da war einerseits die unstillbare Sehnsucht nach dem sinnvollen Umgang mit meinem Verlust. Andererseits empfand ich den unbedingten Willen zu leben und darüber zu erzählen, was ich gelernt hatte, seit der Tod in unser Leben getreten war. Ich spürte, dass mein Leben nicht nur Möglichkeits-, sondern auch Aufgabencharakter hat: „Der Mensch ist der vom Leben Befragte und hat dem Leben zu antworten“, schrieb der Existenzanalytiker Viktor Frankl, der das Massensterben in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern überlebt hatte.
Ein Gefühl des Alleinseins
Neu und irritierend kam ein seltsames Gefühl des Alleinseins hinzu. Ich war mir durchaus bewusst, dass es auch Formen des Alleinseins zu zweit gibt, die misslicher sein können, als wirklich auf sich allein gestellt zu sein. Dann wieder folgende verwirrende Gedankengänge: Viel Durcheinander in unserer Welt kommt überhaupt erst zustande, weil wir nicht allein sein können, weil wir nicht immer genau wissen, wie wenig wir brauchen.
Vieles von dem entsprang nicht dem Gefühl des Alleinseins oder der Einsamkeit; es drehte sich wohl auch darum, einen neuen Lernschritt zu wagen: Vieles kann Wert haben und von Interesse sein, selbst wenn ich es nicht mehr mit meinem verstorbenen Partner teilen kann. Diese Gedanken ließen mich nicht mehr los.
Neu und irritierend kam ein seltsames Gefühl des Alleinseins hinzu. Doch mit diesem Gefühl kamen auch neue Lernschritte und Erkentnisse.
Der Wert des Aushaltens
Das „Aushalten“ wurde zu einem wesentlichen Wert. Durch das Miteinander-Aushalten konnte sogar eine Art Ordnung entstehen: Es erzeugte Halt durch ein stetes Darüber-Reden, durch gemeinsames Bewüten, Beweinen. Die Größe jener Menschen, die mich damals begleiteten, lag darin, das Durcheinander mit mir gemeinsam auszuhalten, die Souveränität und die Kraft zu haben, mit mir zu weinen, bei mir zu bleiben, nicht davonzulaufen. So konnte ich langsam annehmen, was mir widerfahren war, sogar Hoffnung und Neugier auf ein neues Leben kriegen. „Was Licht geben soll“, notiert Frankl, „muss das Brennen aushalten!“
An oberster Stelle stand genau dieser Austausch mit anderen Menschen, das gemeinsame Gespräch – was schwierig genug ist, sich in einer solchen Zeit anderen Menschen zuzumuten, in all der Not und Verzweiflung.
Eine so tragende wie nachhaltige Säule war die Erfahrung der Selbstwirksamkeit: Ich kann etwas machen, bewirken. Ein möglicher Schlüssel liegt darin, sich darauf zu besinnen, was man steuern kann und was nicht. Landläufig gesprochen: „Kratz dich nicht, wo es dich nicht juckt.“
Besonders wichtig: Der Austausch mit anderen Menschen. Das gemeinsame Gespräch.
Achtsamkeit aufbringen
Vielleicht war es von großem Gewinn, einige der erwähnten Phänomene im Nachlebenskontinuum zu etablieren – etwa in der Art, wie sich die wenigsten Menschen nur einmal im Monat eine Stunde lang dem Putzen ihrer Zähne widmen, sondern dies jeden Tag, morgens und abends einige Minuten lang tun. Wir kümmern uns um angemessene Mundhygiene. Jenen Dingen gegenüber, die für uns „nährend“, wichtig und schön sind, sollten wir jede Achtsamkeit aufbringen.
Viel Schönes und Wertvolles in unserem Leben entdecken wir erst durch die Auseinandersetzung mit Krankheit, Tod und Chaos. „Ohne Ordnung kann nichts existieren, ohne Chaos kann sich nichts entwickeln“, wusste der englische Schriftsteller Oscar Wilde.
Weihnachten wird oft als Zeit des Wünschens und der Erwartung beschrieben. Umso wichtiger ist es im Dezember, nicht nur darüber nachzudenken, ob unsere Wünsche in Erfüllung gehen, sondern auch darüber zu reflektieren, ob unsere Tage im Rest des Jahres, so wie sie eben sind, vorbehaltlos zu bejahen sind. In diesem Bejahen liegt Kraft, das Heute leidenschaftlich und achtsam zu leben, mit frischer Expertise für das kleine Glück.
Gerade in jenen Zeiten, in denen wir erkennen müssen, dass im Miteinander die Wärme schwindet, ist es umso wichtiger, das Füreinander zu etablieren. „Und es kann sein“, notierte der Dichter Rainer Maria Rilke: „eine große Kraft rührt sich in meiner Nachbarschaft.“
Das Leben Bejahen. Das Heute leidenschaftlich und achtsam leben, mit frischer Expertise für das kleine Glück.
Lebe das Leben gegenwärtig
Mutmaßlich war das frühe Sterben meiner Frau Anlass und Verantwortung, meine Tage gegenwärtiger zu leben, anders durchs Leben zu gehen. Noch nie hörte ich einen Schwerkranken oder Sterbenden sagen: „Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit im Büro verbracht.“
Keinen Tag also beenden, ohne einen Menschen angelächelt zu haben; nicht Veränderungen hinterherjagen, sondern diese selbst gestalten; sich von der Opferrolle zu verabschieden und die Umstände, die dich ändern, zu beeinflussen.
Nachdrücklicher formuliert: Ich – und nur ich – muss die volle Verantwortung dafür übernehmen, was Wirklichkeit für mich bedeutet. Oder, wie es die amerikanische Autorin Joan Didion formulierte: „Erinnere dich, wie es war, du zu sein: Nur darum geht es immer.“